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„Es arbeiten nun rund 500 italienische Arbeitskräfte im Volkswagenwerk. Sie wohnen in den Unterkünften an der Berliner Brücke. Dort sind fünf zweigeschossige Holzhäuser bereits fertiggestellt, fünf weitere sind im Bau nahezu fertig“[2], so berichteten die Wolfsburger Nachrichten im Frühjahr 1962 über die erste Phase des Aufbaus des sogenannten Italienerdorfes im Wolfsburger Allertal. War auch im September 1961 noch nicht sicher, wie viele Italiener zu Beginn des nächsten Jahres ins östliche Niedersachsen kommen sollten [3], ging es dann letztlich relativ schnell: Die ersten 200 „Gastarbeiter“ trafen bereits, wie aus einem Protokoll des Volkswagenvorstandes hervorgeht, Mitte Januar am Wolfsburger Hauptbahnhof ein [4]. Knapp 5.000 sollten allein binnen des ersten Jahres folgen. Ausschlaggebend für den Umzug in die Arbeiterstadt war meist die Aussicht auf das ‚große Geld‘: „Sie können jedes Jahr eine halbe Million auf die Seite legen“ [5], warb die italienische Verbraucherzeitschrift Quattrosoldi im Auftrage des Volkswagenkonzerns im Mai 1962. Mitbringen sollten die Italiener lediglich einen Koffer und die Lust auf Arbeit [6]. Die Anwerbung überwiegend junger Italiener erfolgte auf Initiative des damaligen Vorstandsvorsitzenden der Volkswagenwerk AG, Heinrich Nordhoff.
Die Geschichte der italienischen „Gastarbeiter“ in der Bundesrepublik geht auf das Jahr 1955 zurück, als Vertreter beider Staaten die „Vereinbarung über die Anwerbung und Vermittlung von italienischen Arbeitskräften nach der Bundesrepublik Deutschland“ schlossen. Die am 25. März 1957 unterzeichneten Römischen Verträge wiederum ermöglichten der Bevölkerung der unterzeichnenden Länder eine höhere Mobilität innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Mit dem Abkommen zur Anwerbung von „Gastarbeitern“ sollte einerseits die starke Arbeitslosigkeit in den südlichen Regionen Italiens gelindert, andererseits dem Arbeitskräftemangel im prosperierenden Westdeutschland begegnet werden. Die durch den deutschen Arbeitsminister Anton Storch und den italienischen Außenminister Gaetano Martino unterzeichnete Vereinbarung, der Ursprung des „Gastarbeiter-Systems“, sorgte letztlich dafür, dass sich Deutschland spätestens ab den 1970er Jahren zum Einwanderungsland entwickeln sollte [7].
Ein ‚hierbleiben‘ sah die deutsch-italienische Vereinbarung nicht vor. Das System basierte auf einem Rotationverfahren, demzufolge die Arbeitskräfte in der Regel nach ein bis zwei Jahren ausgewechselt werden sollten. Neben der Landwirtschaft war es überwiegend die Industrie, in der die ledigen jungen, mehrheitlich männlichen Italiener gefragt waren. Eines der Zentren italienischer Arbeitsmigration bildete, als Heimatort des seinerzeit in Europa führenden Automobilherstellers, der Volkswagenwerk AG, die Stadt Wolfsburg [8]. Bis zum ölkrisenbedingten Einstellungsstopp ausländischer Arbeitskräfte im Jahr 1973 emigrierten zahlreiche Italiener in die niedersächsische Stadt am Mittellandkanal.
Bevor Stadt und Werk in den frühen 1960er Jahren überhaupt mögliche Fragen der Integration von fremdsprachigen Arbeitskräften diskutieren konnten [9], mussten Unterkünfte für die italienischen „Gastarbeiter“ geschaffen werden. Dem vermeintlich temporären Aufenthalt der Arbeitskräfte entsprechend, haftete auch den neu geschaffenen Unterkünften etwas Provisorisches an. Jeweils drei, anfangs sogar vier Personen wurden gemeinsam auf kleinstem Raum untergebracht. Das „größte italienische Dorf nördlich des Brenners“ [10] stand sinnbildlich für die praktizierte Gastarbeiterpolitik der Volkswagenwerk AG, schien doch schon früh Einvernehmen mit der Stadtverwaltung darüber bestanden zu haben, dass die dort befindlichen Holzhäuser perspektivisch, wenn sie nicht mehr als „Ausländerunterkünfte“ gebraucht würden, durch eine Neubausiedlung ersetzt werden sollten [11].
Nachdem der Automobilkonzern im Oktober des Jahres 1961 einen Antrag auf Baugenehmigung von Arbeitsunterkunftsgebäuden an die Stadtverwaltung gestellt hatte [12], war deren Bau im Sommer 1962 bereits weit vorangeschritten, erste Häuser wurden bereits bewohnt [13]. Bestehende Vorbehalte des niedersächsischen Vizeregierungspräsidenten Kästner sowie des Polizeidirektors Sehrt hinsichtlich einer „Massierung“ [14] lediger Arbeiter, schließlich wurde das „Italienerdorf“ bewusst am Rand der Stadt errichtet, fanden bei Stadt und Werk wenig Gehör. Die lokale Presseberichtserstattung über den Bau der Unterkünfte fiel indes positiv aus:
„Inzwischen sind die Arbeiten im Italienerdorf an der Berliner Brücke fortgeschritten. Weitere zweigeschossige Holzhäuser sind errichten worden, denn bald sollen über 4000 ausländische Arbeitskräfte hier untergebracht sein. Besonders die Eingrünung der Anlage hat Fortschritte gemacht. Planierraupen waren während der Werksferien damit beschäftigt, das Gelände vor den Häusern einzuebnen, damit die Einsaat von Grassamen vorgenommen kann. Viele Bäume sind außerdem gepflanzt worden, die das ‚Dorf-Bild‘ auflockern. Das erste der Gemeinschaftshäuser ist schon fertig. Zwei weitere sollen folgen. In dem großen Saal finden über 1000 Personen an Tischen Platz. Für gemeinsame Veranstaltungen sind die Säle unbedingt notwendig, ganz gleich, ob es sich um Vorträge, Filmabende oder bunte Veranstaltungen handelt. Auch die Verkaufsstellen wurden vergrößert. Hier können sich die Bewohner mit Einkaufswaren des täglichen Bedarfs eindecken. In einem anderen Gemeinschaftshaus wird ein Krankenrevier eingerichtet das vom Lagerarzt Dr. Cervelti betreut wird. Schließlich soll auch eine Boccia-Bahn nicht fehlen. Ein kleiner Sportplatz ist schon bereit. Am Eingang an der Berliner Brücke werden die letzten Handgriffe für das kleine Pförtnerhaus getan, von dem aus alle Häuser dann telefonisch zu erreichen sind. [15]“
So idyllisch das hier seitens der lokalen Presse gemalte Bild auch erscheinen mag, so irritieren Begriffe wie „Lagerarzt“ oder das vielfach in den Verwaltungsakten auftauchende „Barackenlager“. Obendrein setzte der Volkswagenkonzern den einstigen „Lagerführer“ des sogenannten Gemeinschaftslagers in der „Stadt des KdF-Wagens“, Ludwig Vollmann [16], aufgrund seiner Expertise als Leiter für das „Italienerdorf“ ein [17]. Zwar war die Leitung darum bestrebt, „den Ausdruck ‚Lager‘ (zu) vermeiden“, wie Vollmann der Welt erläuterte, doch sprach er zeitgleich von den „Capos“, die die Verantwortung auf den Fluren der Häuser zu tragen hätten [18]. Eine begriffsgeschichtliche Nähe zu den KZ-Funktionshäftlingen ist nicht von der Hand zu weisen.
Dabei unterschied sich das durch den Werkschutz bewachte und umzäunte Holzhäuserlager für italienische Arbeitskräfte [19] gar nicht so sehr von anderen „Gastarbeiter“-Unterkünften in der Bundesrepublik [20]. Auch dass die knapp 4.000 italienischen Arbeiter auf diese Weise von der Stadt isoliert in den Allerwiesen einquartiert waren, ist kein Spezifikum der Wolfsburger Geschichte. Die bewusst herbeigeführte Isolierung und „Massierung“ der italienischen „Gastarbeiter“ war es aber zum Teil auch, die eine Unruhe im „Italienerdorf“ heraufbeschwor, die einen überregional rezipierten „wilden Streik“ auslöste [21].
Während der ersten kühlen Tage im November des Jahres 1962 hatte sich ein Gefühl der Unzufriedenheit unter den Bewohnern der Holzhäusersiedlung in den Allerwiesen breitgemacht [22]. Auslöser hierfür war, wie es später hieß, eine mangelhafte medizinische Versorgung. Nachdem im städtischen Krankenhaus ein Gastarbeiter an den Folgen einer Hirnblutung verstarb und ein weiterer Italiener sich Krank fühlte, jedoch 40 Minuten vergingen [23], ehe der Krankenwagen bei den Unterkünften nahe der Berliner Brücke eintraf, eskalierte die Lage vor Ort: „Innerhalb kürzester Zeit rotteten sich größere Gruppen von Arbeitern vor ihren Unterkünften zusammen und liefen auf den Berliner Ring, wobei es zu beträchtlichen Verkehrsbehinderungen kam“ [24], berichteten die Wolfsburger Nachrichten am 6. November 1962. Die italienischen „Gastarbeiter“ hatten ihrem Ärger Luft gemacht und dafür einen Tag die Arbeit niedergelegt, zuvor die Ausgänge des Geländes hermetisch abgeriegelt. Wahrscheinlich hatte erst das Eintreffen des italienischen Generalkonsuls Gastone Guidotti zu einer Entschärfung der Tumulte geführt [25]. Die Leitung des Volkswagenwerkes wies jegliche Schuldzuweisung von sich; man „dürfe […] die Ereignisse nicht überbewerten“ hieß es nüchtern in den lokalen Medien [26]. Nüchtern fiel die Reaktion der Betriebsleitung indes nicht aus, waren doch 70 Entlassungen die Folge der „Ereignisse“ vom 5. November 1962 [27]. Zugeständnisse sollten die Verantwortlichen der Konzernleitung auch im Folgenden kaum machen. In einer Stellungnahme versicherte der leitende Konzernbetriebsarzt Dr. med. Fahrner gegenüber Hugo Dreyer [28], dem Leiter der Volkswagen-Sozialabteilung, es gäbe keinen Anlass dazu, das Werkssanitätswesen zu verbessern, da dieses ohnehin nur eine zusätzliche Leistung der Werksleitung sei [29].
Bis zum Abbau des Dorfes im Jahr 1977 [30] sollten keine weiteren Ausschreitungen dieser Art folgen, eine einzelne Gewalttat auf dem Gelände die Ausnahme bleiben [31]. Die Demontage der Holzhäusersiedlung vollzog sich dann im Zeichen eines einsetzenden Umdenkens in der Ausländerpolitik von Werk und Stadt [32]. Schon zuvor hatten bildungspolitische Projekte einen Integrationsprozess eingeläutet [33]; die dereinst isoliert wohnenden italienischen „Gastarbeiter“ avancierten zum festen Bestandteil der Wolfsburger Stadtgemeinschaft.